Ein Zug der ÖBB mit dem ÖBB-Logo.

“Pass auf dich auf”: ÖBB will mit Behinderung abschrecken

Das ging daneben: Eigentlich wollten die ÖBB mehr Bewusstsein für die Gefahren durch “unüberlegtes Handeln” und “Leichtsinn” an Bahngleisen schaffen. Stattdessen fabrizierten sie ein Paradebeispiel für diskriminierende und stereotype Kontextualisierung von Behinderungen. Trotz massiver Kritik von Interessensvertretungen und Menschenrechtsexpert*innen sind die Plakate überall im öffentlichen Raum auffindbar.

Eine junge, selbstbewusste Frau steht mit dem Rücken zum Bahngleis. Ihre Hände hat sie lässig in die Hosentaschen gesteckt. Sie trägt kurze sportliche Shorts, modische weiße Turnschuhe und außerdem eine Beinprothese. Zumindest auf dem Plakat, denn die junge hippe Frau wurde, wie auch alle anderen Models der Kampagne, entsprechend nachbearbeitet – aber dazu später. Darunter steht geschrieben: “Abkürzungen über Bahngleise sind lebensgefährlich.” Das beschriebene Sujet ist Teil einer groß angelegten Sicherheitskampagne, die laut ÖBB “Bewusstsein schaffen” und “wachrütteln” soll.

“Jetzt kommt Bewegung rein”

Dieser Werbespruch stammt aus einer Zeit, als die ÖBB offensichtlich noch ein besseres Händchen für ihre Werbung hatten. Bewegung in die aktuelle “Pass auf dich auf Kampagne” brachte die Community der Menschen mit Behinderungen, ihre Interessenvertretungen und der Unabhängige Monitoringausschuss (er überwacht die Umsetzung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen), welche die verbreiteten Sujets völlig zurecht massiv kritisieren und den sofortigen Stopp forderten.

Behinderung ist keine Strafe, sondern Teil der menschlichen Vielfalt

Die stereotype Kontextualisierung der ÖBB zielt darauf ab, die jungen Betrachter*innen betroffen zu machen und, wie sie selbst sagen, zu emotionalisieren: “Uns ging und geht es vor allem darum, mit den Fotos bei Jugendlichen – unserer wichtigsten Zielgruppe – etwas ,auszulösen’ und sie wachzurütteln – Bahnanlagen sind kein Spielplatz!” Junge Menschen mit Behinderungen sollen diese Emotionen, die von Schreck über Betroffenheit und Mitleid bis hin zu Angst vor einem Leben mit Behinderungen reichen, hervorrufen:

“Zentraler Inhalt der Kampagne ,Pass auf dich auf’ ist, auf die schwerwiegenden Folgen hinzuweisen, die ein Moment der Unachtsamkeit auf Bahnanlagen haben kann.” Damit wird Behinderung als Strafe für eigenes Fehlverhalten geframet. Ein peinlicher “Klassiker” der Diskriminierung, der, historisch betrachtet, immer eng mit der sogenannten “Sozialschmarotzer”-Debatte verknüpft war. 

Da solche stereotypen Inszenierungen bewusst eine Distanz zu Menschen mit Behinderungen schaffen und somit dem inklusiven Gedanken diametral entgegen stehen, widerspricht die Kampagne den Grundsätzen der Menschenrechte der Menschen mit Behinderungen, wie der Unabhängige Monitoringausschuss feststellte. 

Stoppt Disability-Faking!

Für die ÖBB-Schock-Kampagne wurden Models ohne Behinderungen engagiert und anschließend entsprechend mit einer Fotomontage gearbeitet. Bis jetzt schweigen die ÖBB darüber, warum sie keine Models mit Behinderungen engagiert haben. Daran, dass Sie keine Menschen mit Behinderungen gefunden hätten, kann es sicher nicht liegen. Vielleicht weil sie kein zweites Fass aufmachen wollen? Denn Disability-Faking negiert den Grundsatz der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung: “Nichts über uns – ohne uns” vollkommen. Disability-Faking ist trotzdem bis heute noch weit verbreitet. Zum Beispiel, wenn sich Menschen ohne Behinderungen in einen Rollstuhl setzen um zu erfahren, wie es sich anfühlt, in einer nicht barrierefreien Welt zu leben. Nur, dass sie nach einer halben Stunde wieder aufstehen und meistens auch noch glauben zu wissen, wie sich die Lebensrealität mit Rollstuhl anfühlt.

Warum so etwas nicht passieren darf

Wer selbst keine Expertin oder Experte ist, der fragt jemanden, der es ist: “Nichts über uns – ohne uns”. Die Interessensvertretungen der Menschen mit Behinderungen, die nun das Ergebnis der misslungenen Kampagne kritisieren, hätte man auch schon vor der Veröffentlichung miteinbeziehen müssen, damit man für das viele Geld schlussendlich eine gelungene und informative Werbe- und Sicherheitskampagne präsentieren kann. Würde man wirklich “eng mit der Community zusammenarbeiten”, wie die ÖBB artikulierten, hätte man schnell erkannt, wie unangebracht die Illustration von Warnhinweisen mit Menschen mit Behinderungen ist: Denn was diskriminierend ist, weiß die betreffende Gruppe, nicht die ÖBB.

Gut gemeint reicht nicht 

Niemand bezweifelt, dass die ÖBB Menschen mit Behinderungen nicht diskriminieren wollten. Nach der Welle an Kritik, gilt es nun für die ÖBB zu reagieren! Laut dem Österreichischen Werberat haben die ÖBB bereits ein Sujet zurückgezogen und die Kampagne mit Ende Oktober 2019 auslaufen lassen. Trotzdem hängen die diskriminierenden Plakate noch an jedem österreichischen Bahnhof und laut Webseite auch an Schulen. Keinem ist geholfen, wenn die ÖBB etwas aus guten Gründen zurückziehen, aber nicht aus der Öffentlichkeit entfernen. Schlimm genug, dass bereits 70.000 Folder mit den Motiven verteilt wurden. Außerdem ist auf der Webseite der Kampagne, auf der die diskriminierenden Motive immer noch zu sehen sind (Stand: 09.11.2019), von Sicherheitsvorträgen an Schulen die Rede. Für ein verantwortungsbewusstes Unternehmen wie die ÖBB muss klar sein, dass das nicht mit den aktuellen, diskriminierenden Sujets passieren kann. Besonders Schüler*innen sollten nicht zusammenhanglos und ohne kritisch-analytischen Charakter mit der stereotypen Darstellung von Menschen mit Behinderungen konfrontiert werden. Als staatlicher Betrieb müssen die ÖBB mit guten Beispiel vorangehen, sich ernsthaft mit der Kritik befassen und die Expertise von Menschen mit Behinderungen in eigener Sache anerkennen. Damit soetwas nicht wieder passiert. “Heute. Für morgen. Für uns.”

Eine junge, selbstbewusste Frau steht mit dem Rücken zum Bahngleis. Ihre Hände hat sie lässig in die Hosentaschen gesteckt. Sie trägt kurze sportliche Shorts, modische weiße Turnschuhe und außerdem eine Beinprothese.
© ÖBB

Titelbild: ÖBB
Der Artikel erschien zuerst in der Salzburger uni:press.

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