Studie legt offen: Menschen mit Behinderungen häufig von Gewalt betroffen
Die vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) durchgeführte Studie schafft endliche repräsentative Daten zu Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen. Die Ergebnisse sind erschreckend und zeigen den dringenden Handlungsbedarf. Veraltete Strukturen wie Heime und Tagesstätten haben damit ihre Legitimation gänzlich verloren. (Triggerwarnung!)
“Die Ergebnisse verdeutlichen, dass es sowohl hinsichtlich sexueller, als auch körperlicher und psychischer Gewalt durchwegs hohe Zahlen an Gewaltfällen bei Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen gibt und das in allen Lebenslagen”, erläuterte Hemma Mayrhofer, Leiterin der Studie, bei einer Pressekonferenz im vergangenen Dezember. Diesem Erkenntnis liegt eine umfassende Forschung zu Grunde, bei der 376 Menschen mit Behinderungen sowie 86 Betreuer*innen zwischen 2017 und 2019 befragt wurden. Außerdem wurden 15 vertiefende Interviews mit Menschen mit Behinderungen und 25 Expert*innen geführt.
Schockierende Zahlen belegen Gewalterfahrungen
Mehr als 8 von 10 Befragten gaben an, körperliche Gewalt erlebt zu haben,
4 von 10 sogar schwere Formen davon. Dazu gehörte unter anderem geschlagen oder verprügelt worden zu sein oder das absichtliche Herbeiführen von Verbrennungen durch heiße Flüssigkeiten. Besonders gefährdet seien Menschen, die auf Hilfe bei der Körperpflege angewiesen sind.
Ebenfalls 8 von 10 Personen haben im Laufe ihres Lebens psychische Gewalt erfahren. 6 von 10 Personen widerfuhr schwere psychische Gewalt wie z.B. gefährliche Drohung oder hartnäckige Belästigungen.
Von sexualisierter Gewalt betroffen ist jede/r* Zweite, jede/r* Dritte von schwerer sexualisierter Gewalt mit direktem Körperkontakt (u.a. Vergewaltigungen). Frauen mit Behinderungen sind nochmal stärker gefährdet als Männer mit Behinderungen.
Der Begriff “Menschen mit Behinderungen” meint auch Menschen mit “psychischen Erkrankungen”, die durch Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft behindert werden.
Inklusives Wohnen fördern
„Geschlossene Systeme erhöhen das Risiko, Gewalt zu erfahren, enorm“, stellt Christine Steger anlässlich der Studienveröffentlichung fest. „Dabei ist die Größe der Einrichtung, wie die Studie zeigt, kaum relevant. Es ist nicht so, dass in kleineren Einrichtungen das Gewaltrisiko geringer ist als in großen. Deswegen ist es wichtig, dass wir generell Heime abbauen und inklusives Wohnen fördern. Menschen mit Behinderungen gehören mitten in unsere Gesellschaft.”
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die in Österreich seit 2008 gilt, schreibt das Recht auf Selbstbestimmtes Leben fest. Anstatt dementsprechend “normale” Wohnformen zu fördern und durch ausfinanzierte Systeme von Persönlicher Assistenz die nötige Unterstützung zur Verfügung zu stellen, werden in Österreich immer noch neue Heime errichtet. So wird gerade das Konradinum, eine Einrichtung des Salzburger Landes, trotz massiver Kritik neu gebaut. Die Verpflichtung, die UN-BRK auch auf Landesebene umzusetzen, wird dabei ignoriert.
Christine Steger ist Vorsitzende des Unabhängigen Monitoringausschusses. Er überprüft und überwacht in Österreich die Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention (UN-BRK).
Volker Schönwiese erläuterte 2016 bei einer Tagung zum Tabuthema “Gewalt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen” in Salzburg, dass strukturelle und personelle Gewalt vor allem vorherrschen, wenn öffentliche Präsenz von Personen mit Unterstützungsbedarf nicht Teil sozialer Kultur ist und diese keine akzeptable Wahlmöglichkeit für ihre Lebensformen haben. Er kritisiert die Ökonomisierung der Pflege und den fehlenden Willen zur Umsetzung von gewaltpräventiven Konzepten und stellt folgende These auf: „Im Mittelpunkt der öffentlichen Strukturpolitik steht in der Tendenz die Bewahrung, Erweiterung und Ergänzung des jetzigen Systems, aber keine Umstrukturierung.“
Ein Indiz dafür ist auch ein Neubau einer Lebensstruktur wie das Konradinum in Eugendorf.
Volker Schönwiese war Professor an der Universität Innsbruck – Fachbereich Erziehungswissen-schaften. Er gründete 1993 die internetbibliothek bidok – behinderung inklusion dokumentation.
Der Heimalltag beschränkt
“Die Bewohnervertretung stößt in ihrer, mittlerweile 15-jährigen, Überprüfungstätigkeit von Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen regelmäßig auf verschiedenste Formen von Zwangs- und Gewalthandlungen. Die Beispiele reichen von groben Pflegehandlungen obwohl sich die/der Bewohner*in wehrt, über ständiges Zu-Bett-bringen ab den frühen Abendstunden, bis hin zu verdeckten Medikamentengaben mit dem Essen oder dem Vorgeben des Tagesablaufes”, erläutert Erich Wahl. Es sei klar, dass in Heimen für Personen nicht annähernd die gleiche Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung bestünde wie in normalen Wohnungen, da Heime ihre Abläufe auch an den eigenen Erfordernissen ausrichten. Je größer der Unterstützungsbedarf desto mehr seien die Bewohner*innen diesen strukturellen Erfordernissen des Heimalltages ausgeliefert. “Die Bewohner*innen bleiben zwangsläufig unter sich, leben gemeinsam und arbeiten gemeinsam. Sie haben garnicht die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Inklusion sieht jedenfalls anders aus”, so Wahl.
Erich Wahl ist Bereichsleiter von Salzburg und Tirol bei VertretungsNetz-Bewohnervertretung. Die Bewohnervertretung überprüft Freiheitsbeschränkungen und vertritt bei gerichtlichen Überprüfungsverfahren die Interessen der Bewohner*innen. Sie setzt sich dafür ein, dass Menschen nicht unnötig in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.
Wir wissen davon
Das Konzept der Verwahrung von Menschen mit Behinderungen in isolierten Systemen wie Einrichtungen hat damit gänzlich seine Legitimation verloren. Will man die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen ernst nehmen, sind dringend nachhaltige Maßnahmen zum Abbau solcher Strukturen einzuleiten. Erst dann wird eine inklusive Gesellschaft mehr als nur ein Lippenbekenntnis sein, die Barrieren in den Köpfen langsam zerfallen und körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt wirksam bekämpft. Wie akut die Lage ist, zeigen die nun vorliegenden Zahlen der IRKS-Studie: “Es liegen endlich aktuelle Daten zur Situation von Menschen mit Behinderung in Österreich vor, die für eine breite Öffentlichkeit zugänglich sein werden und auf die wir uns beziehen können und müssen. Damit wir nicht mehr sagen können, wir haben von nichts gewusst”, mahnt Elisabeth Löffler, Peer-Beraterin und BIZEPS-Redakteurin in einer Presseaussendung zur Studienpräsentation.
Elisabeth Löffler ist Vorstandsmitglied bei BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben und ausgebildete Peer-Beraterin. Der Verein BIZEPS betreibt eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige in Wien.
Hier gehts zum Endbericht der IRKS-Studie.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der Salzburger uni:press #700.